DU LEBST IN MEINER KLAGE … (Resümee des Vortrags)

 

PD Dr. Christine Fischer

„Du lebst in meiner Klage…“
Sterben, Tod und Trauer in der europäischen Literatur

(Vortrag auf dem 12. Mittelfränkischen Hospiztag am 23.11.2013 in Bad Windsheim                        und am 3.10.2014 für den Hospizverein Neustadt/Aisch im Kloster Schwarzenberg)
 

Zusammenfassung

Sterben, Tod und Trauer sind Schlüsselthema und Herausforderung für Literatur und Kunst zugleich – geht es doch darum, das Unsagbare, ja das Unvorstellbare auszudrücken und vorstellbar zu machen. Wir wissen um unsere Endlichkeit, können sie aber nicht „denken“ oder in irgendeiner Weise in Sprache oder Bildern „fassen“.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist daher auch und gerade in Literatur und Kunst zunächst ein höchst individuelles Unterfangen, das doch nach dem Eingebundensein in ein größeres Ganzes strebt. Aus diesem Grund wird zum einen in der Forschung diskutiert, inwieweit Sichtweisen von Sterben, Tod und Trauer kulturgebunden sind; so lassen sich etwa die fünf kulturell vorgeprägten Grundtypen der Negierung, Akzeptanz und Ablehnung des Todes, der Gewöhnung an ihn sowie der Todessehnsucht definieren (Kunt/Nyjkes 1986, 46).
Zum anderen stellt sich die Frage, ob es nicht in Literatur und Kunst dennoch auch archetypische, kulturübergreifende Bilder für Sterben, Tod und Trauer gibt, zumal gerade die Literatur „ein Ort des Totengedenkens“ (Horn 1998, 7) und der lebendig gehaltenen Erinnerung ist. Kunst richtet sich seit alters her wider das Vergessen und wider die Vergänglichkeit. Sie versucht der Endlichkeit des Menschen etwas Bleibendes, Beständiges, Unvergängliches entgegenzusetzen. Dies ist eine ihrer zentralen Aufgaben und steht im Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses – unabhängig von Kunstgattung und Epoche. Zu den wesentlichen Symbolen für Abschied, Tod und Trauer gehören Schlaf und Traum, die Schifffahrt als Lebensreise (Frank 1979, 36 f.), die Zeit der Ernte, Abend und Nacht (Macho 1987, 382). Gerade die navigatio vitae, die „Schifffahrt des Lebens“, hat beispielsweise Caspar David Friedrich in seinen Bildern Das Eismeer. Die verunglückte Hoffnung und Die Lebensstufen in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gestaltet.
Epochenübergreifende Bedeutung für die Literatur hat der „Traum als somnia prophetica“ (Macho 1987, 259): Im Traum, der die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten vermag, ist Kommunikation mit dem Verstorbenen noch oder wieder möglich. Beispiele finden sich, neben vielen anderen, im ausgehenden Mittelalter bei Petrarca (Canzoniere Nr. CCLXXIX) oder in der Moderne bei Anna Achmatova: „War dieser Traum prophetisch oder dunkel … / Der Mars erstrahlte mir als hellster Stern, / Am Himmel stand er drohend, rötlich funkelnd – / Ich träumte jene Nacht, du kämst von fern. // […]“ (Achmatova 1998, 129).
Als Allegorie des trauernden Dichters-Sängers gilt insbesondere Orpheus; von der griechischen Antike bis in die Moderne wurde dieser Mythos sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur immer wieder gestaltet, im frühen 20. Jahrhundert etwa von Rodin und Rilke (vgl. insbesondere die Ballade Orpheus. Eurydike. Hermes).
Während im Orpheus-Mythos die Überwindung des Todes durch die beschwörende Macht der Kunst und vor allem des Gesangs zumindest potenziell noch möglich erscheint (Horn 1998, 88), ist der romantische Totenkult von tiefer Melancholie und dem Bewusstsein der Unumkehrbarkeit geprägt. Diese Sichtweise charakterisiert auch die über 400 Kindertotenlieder, die der Lyriker und Orientalist Friedrich Rückert nach dem Tod seiner Kinder Luise und Ernst schrieb, die um den Jahreswechsel 1833/34 im Kleinkindalter gestorben waren. Fünf Lieder wurden ab 1901 von Gustav Mahler vertont. Das Bewusstsein der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des Todes schließt indessen in den Kindertotenliedern die Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht aus: „[…] // Sie sind uns nur voraus gegangen, / Und werden nicht hier nach Haus verlangen; / Wir holen sie ein auf jenen Höhn / Im Sonnenschein, der Tag ist schön.“ (Rückert 1988, 410)
In einem anderen Kindertotenlied wird die trostspendende Macht der Erinnerung thematisiert: „Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht. // Wo ich mein Zelt aufschlage, / Da wohnst du bei mir dicht; / Du bist mein Schatten am Tage / Und in der Nacht mein Licht. // […]“ (Rückert 1988, 59).
Annemarie Schimmel hat auf die nur scheinbare Kunstlosigkeit dieses Gedichts hingewiesen (Schimmel 1987, 124 f.). Aus einem Schatten wird mein Schatten, aus einem Licht – mein Licht. Schließlich steht die Erinnerung als Licht in der Nacht sogar dem Schatten am Tage diametral und tröstlich gegenüber. Und nicht zuletzt verleiht die Klage – meine Klage – der Trauer eine Stimme: Totenklage ist Lebensäußerung, ist lebendig gehaltene Erinnerung.

Zitierte Literatur:
Achmatova, Anna: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch, übertragen von Christine Fischer, Jena 1998.
Frank, Manfred: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a.M. 1979.
Horn, Eva: Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit, München 1998.
Kunt, Ernö/Nyikes, Mária: „Tod – Gesellschaft – Kultur“. In: Sterben und Tod. Eine kulturvergleichende Analyse. Verhandlungen der VII. Internationalen Fachkonferenz Ethnomedizin in Heidelberg, 5.-8.4.1984. Hrsg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin von Dorothea Sich, Horst H. Figge und Paul Hinderling. Mit einem Vorwort von Christian von Ferber, Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 45-58.
Macho, Thomas H.: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. 1987.
Rückert, Friedrich: Kindertodtenlieder. Mit einer Einleitung neu herausgegeben von Hans Wollschläger, Nördlingen 1988.
Schimmel, Annemarie: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk, Freiburg i. Br. 1987.