Frühfrost

Spätherbst

Am kalten Morgen steigt die Sonne
Als Feuersäule, rauchumhüllt.
Mich, falsch belichtet aufgenommen,
Erkennt man nicht auf diesem Bild.

Solang noch dichte Nebel wehen
Und sich das Gras am Teich erwärmt,
Bin ich für Bäume schwer zu sehen:
Das Ufer ist recht weit entfernt.

Der Fremde ist vorbeigegangen,
Versinkt, zu spät erkannt, im Dunst.
Den Frost hat Gänsehaut umfangen,
Die Luft gleicht Schminke, falscher Kunst.

Auf deinen Weg ist Reif gesunken
Wie feines Flechtwerk, weiß und zart.
Die Erde, von Kartoffeln trunken,
Will endlich rasten – und erstarrt.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 98.

Stimme im Telefon

Früher war sie vogelgleich und klingend,
War wie eine Quelle silberhell,
Als verströme sie sich heiter singend
An dem Kabel – strahlengleich und schnell.

Später war sie leises, fernes Stöhnen,
Wenn die Freude weicht dem nahen Leid,
Anders, reuevoll schien sie zu tönen
Und verlor sich in der Tiefe weit.

Schon ist sie im öden Feld verschwunden
Und von rauen Stürmen zugeschneit,
Meine Seele schreit, spürt nur noch Wunden,
Doch mein schwarzes Telefon – es schweigt.

 

Nikolaj Zabolockij

Übersetzt von Christine Fischer

In: Nikolaj Zabolockij: Architektur des Herbstes, Jena 1996, S. 161.

Die Musik

 Wie die Blumen auf dem Felde    

                                    Für D.D. Sch.

Wie wundersam erglüht ihr reines Licht!
Facetten schimmern, sie am Saum umfassend …
Sie spricht allein mit mir und tröstet mich,
Wenn alle andern ängstlich mich verlassen.

Der letzte Freund hat längst sich abgewandt –
Sie ist mit mir in meinem Grab gewesen;
In ihr hab ich des Donners Lied erkannt,
Und alle Blumen brachte sie zum Reden.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 99.

Die Amsel …

Die Amsel, ohne Trost, singt ihre Klagelieder,Singender Brunnen
Des Sommers bunte Pracht muss endlich doch vergehn,
Schon sinken Ähren dicht zu Ähren nieder,
Die Sicheln sirren, schlängeln sich und mähn.

Der Schnitterinnen kurze Röcke schwingen
Im Wind wie Fähnchen, außer Rand und Band.
Es fehlt allein der Schellen frohes Klingen,
Der Blick durch müde Wimpern, unverwandt.

Nicht Glück, nicht Liebe kann ich noch erwarten,
Es dunkelt schon, ich fühl’s, nun kommt das Leid;
Betrachte einmal nur den Wundergarten:
Dort waren schuldlos selig wir zu zweit.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 59.

Letzter Toast

Ich trink auf mein zerstörtes Heim,
Aufs Leben voller Leid,
Ich trinke auch auf dich den Wein,
Auf Einsamkeit zu zweit,
Und auf den Mund, der mich belog,
Auf Augen ohne Licht,
Auf diese Welt, die mich betrog,
Auf Gott – er half mir nicht.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 115.

Dunkle Nacht

Du, der du zu tragen hast,Müder Wanderer
Finde bei mir Rast.
Lass uns schweigen, lass uns schauen
In die dunkle Nacht.

Stell ab
Den Eichenkoffer –
Komm zu Kräften.
Lass uns zu zweit in dunkle Nacht
Die Augen heften.

Worte stocken. Schwere Last.
Brot, steinhart.
Wort ins Nichts. Zwei Steine
In dunkler Nacht.

 

Julian Tuwim

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Polnische und deutsche Poesie
in modernen Übersetzungen.
Hrsg. von Ulrike Jekutsch und Andrzej Sulikowski,
Szczecin 2002, S. 139.