Contra spem spero

Fort, Gedanken, ihr herbstlichen Wolken!
Seht, der goldene Frühling beginnt.
Wird auf Klage nur Kümmernis folgen,
Jahr um Jahr, bis die Jugend verrinnt?

Unter Tränen zum Lächeln mich zwingend,
Will ich singen am dunkelsten Ort,
Hoffnungslos soll mir Hoffnung gelingen –
Leben will ich! Fort, Traurigkeit, fort!

In die kargen, die darbenden Wiesen
Setz ich Blumen, vom Frosthauch umtost;
Mit der bittersten Tränenflut gießen
Will ich sie – bis sie blühen zum Trost.

Auch das kälteste Schneefeld wird tauen,
Wenn der Panzer des Eises zerbricht;
Bunte Blüten entstehn, und vertrauen
Will dem heiteren Frühling auch ich.

Auf den Berg hab ich Steine zu tragen,
Ich muss Elend erleiden noch lang;
Doch an schrecklichen, finsteren Tagen
Soll mein Lied fröhlich klingen, nicht bang.

Vor der Dunkelheit werd ich bestehen,
Ausschau haltend im lichtlosen Heim,
Um die Nacht überwunden zu sehen,
Wenn ein leuchtender Stern mir erscheint.

Ja! Durch Tränen zum Lächeln mich zwingend,
Werd ich singen am dunkelsten Ort,
Hoffnungslos wird mir Hoffnung gelingen –
Leben werde ich! Traurigkeit, fort!

 

Lesja Ukrajinka

Übersetzt von Christine Fischer

 

Auch in: NZZ am Sonntag, Bücher am Sonntag, 25.06.2023, S. 18.

 

Im Krankenhaus

Die Leute umstanden den Wagen,
Versperrten den Weg immer mehr.
Ich wurde ins Auto getragen,
Ein Ersthelfer sprang hinterher.

Der Rettungsdienst raste vorüber
An Gaffern, Portalen der Stadt,
An Straßen, belebt wie im Fieber,
Und tauchte ins Dunkel der Nacht.

Der Weg, Polizei und Gestalten
Erschienen im Lichtkegel weiß.
Kaum konnte die Pflegerin halten
Das Fläschchen mit Salmiakgeist.

Im Eingangsraum floss ohne Eile,
Voll Wehmut der Regen durchs Rohr.
Sie arbeiteten Zeile für Zeile
Im Aufnahmebogen sich vor.

Zur Tür wurde er hingeschoben;
Die Klinik war überbelegt.
Nach Jod roch es stechend von oben,
Und Kälte drang ein unentwegt.

Das Viereck des Fensters umsäumte
Vom Garten, vom Himmel ein Stück.
An Böden und Kittel und Räume
Gewöhnte der Neuling den Blick.

Die Schwester kam, stellte ihm Fragen
Und wiegte den Kopf unbestimmt.
Was immer sie tun und ihm sagen –
Er spürte: sein Leben verrinnt.

Da sah er, vor Dankbarkeit trunken,
Ganz nah vor dem Fenster die Wand,
Erleuchtet von tanzenden Funken,
In loderndem Feuer entflammt.

Rotglühend erstrahlten die Schranken;
Es sandte, vom Lichtschein erfasst,
Der Ahorn ihm Abschiedsgedanken
Und winkte mit knorrigem Ast.

„O Herr – was Du schufst, ist vollendet“,
Sprach leise der Kranke zu Gott.
„Die Betten und Menschen, die Wände,
Die nächtliche Stadt und der Tod.

Ein Schlafmittel musste ich nehmen,
Doch weine ich, zerre am Stoff.
O Herr, durch Erregung und Tränen
Hab Dich ich zu finden gehofft…

Ich seh einen Lichtschimmer schweben,
Der kaum auf dem Lager verweilt,
Erkenne mich selbst und mein Leben
Als Reichtum, von Dir zugeteilt.

Im Krankenhaus muss ich verscheiden,
Ich fühle die Glut Deiner Hand;
Für Dich bin ich Ring und Geschmeide,
Du bettest mich tief in den Samt.“

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 114-116.

 

DU LEBST IN MEINER KLAGE … (Resümee des Vortrags)

 

PD Dr. Christine Fischer

„Du lebst in meiner Klage…“
Sterben, Tod und Trauer in der europäischen Literatur

(Vortrag auf dem 12. Mittelfränkischen Hospiztag am 23.11.2013 in Bad Windsheim                        und am 3.10.2014 für den Hospizverein Neustadt/Aisch im Kloster Schwarzenberg)
 

Zusammenfassung

Sterben, Tod und Trauer sind Schlüsselthema und Herausforderung für Literatur und Kunst zugleich – geht es doch darum, das Unsagbare, ja das Unvorstellbare auszudrücken und vorstellbar zu machen. Wir wissen um unsere Endlichkeit, können sie aber nicht „denken“ oder in irgendeiner Weise in Sprache oder Bildern „fassen“.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist daher auch und gerade in Literatur und Kunst zunächst ein höchst individuelles Unterfangen, das doch nach dem Eingebundensein in ein größeres Ganzes strebt. Aus diesem Grund wird zum einen in der Forschung diskutiert, inwieweit Sichtweisen von Sterben, Tod und Trauer kulturgebunden sind; so lassen sich etwa die fünf kulturell vorgeprägten Grundtypen der Negierung, Akzeptanz und Ablehnung des Todes, der Gewöhnung an ihn sowie der Todessehnsucht definieren (Kunt/Nyjkes 1986, 46).
Zum anderen stellt sich die Frage, ob es nicht in Literatur und Kunst dennoch auch archetypische, kulturübergreifende Bilder für Sterben, Tod und Trauer gibt, zumal gerade die Literatur „ein Ort des Totengedenkens“ (Horn 1998, 7) und der lebendig gehaltenen Erinnerung ist. Kunst richtet sich seit alters her wider das Vergessen und wider die Vergänglichkeit. Sie versucht der Endlichkeit des Menschen etwas Bleibendes, Beständiges, Unvergängliches entgegenzusetzen. Dies ist eine ihrer zentralen Aufgaben und steht im Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses – unabhängig von Kunstgattung und Epoche. Zu den wesentlichen Symbolen für Abschied, Tod und Trauer gehören Schlaf und Traum, die Schifffahrt als Lebensreise (Frank 1979, 36 f.), die Zeit der Ernte, Abend und Nacht (Macho 1987, 382). Gerade die navigatio vitae, die „Schifffahrt des Lebens“, hat beispielsweise Caspar David Friedrich in seinen Bildern Das Eismeer. Die verunglückte Hoffnung und Die Lebensstufen in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gestaltet.
Epochenübergreifende Bedeutung für die Literatur hat der „Traum als somnia prophetica“ (Macho 1987, 259): Im Traum, der die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten vermag, ist Kommunikation mit dem Verstorbenen noch oder wieder möglich. Beispiele finden sich, neben vielen anderen, im ausgehenden Mittelalter bei Petrarca (Canzoniere Nr. CCLXXIX) oder in der Moderne bei Anna Achmatova: „War dieser Traum prophetisch oder dunkel … / Der Mars erstrahlte mir als hellster Stern, / Am Himmel stand er drohend, rötlich funkelnd – / Ich träumte jene Nacht, du kämst von fern. // […]“ (Achmatova 1998, 129).
Als Allegorie des trauernden Dichters-Sängers gilt insbesondere Orpheus; von der griechischen Antike bis in die Moderne wurde dieser Mythos sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur immer wieder gestaltet, im frühen 20. Jahrhundert etwa von Rodin und Rilke (vgl. insbesondere die Ballade Orpheus. Eurydike. Hermes).
Während im Orpheus-Mythos die Überwindung des Todes durch die beschwörende Macht der Kunst und vor allem des Gesangs zumindest potenziell noch möglich erscheint (Horn 1998, 88), ist der romantische Totenkult von tiefer Melancholie und dem Bewusstsein der Unumkehrbarkeit geprägt. Diese Sichtweise charakterisiert auch die über 400 Kindertotenlieder, die der Lyriker und Orientalist Friedrich Rückert nach dem Tod seiner Kinder Luise und Ernst schrieb, die um den Jahreswechsel 1833/34 im Kleinkindalter gestorben waren. Fünf Lieder wurden ab 1901 von Gustav Mahler vertont. Das Bewusstsein der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des Todes schließt indessen in den Kindertotenliedern die Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht aus: „[…] // Sie sind uns nur voraus gegangen, / Und werden nicht hier nach Haus verlangen; / Wir holen sie ein auf jenen Höhn / Im Sonnenschein, der Tag ist schön.“ (Rückert 1988, 410)
In einem anderen Kindertotenlied wird die trostspendende Macht der Erinnerung thematisiert: „Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht. // Wo ich mein Zelt aufschlage, / Da wohnst du bei mir dicht; / Du bist mein Schatten am Tage / Und in der Nacht mein Licht. // […]“ (Rückert 1988, 59).
Annemarie Schimmel hat auf die nur scheinbare Kunstlosigkeit dieses Gedichts hingewiesen (Schimmel 1987, 124 f.). Aus einem Schatten wird mein Schatten, aus einem Licht – mein Licht. Schließlich steht die Erinnerung als Licht in der Nacht sogar dem Schatten am Tage diametral und tröstlich gegenüber. Und nicht zuletzt verleiht die Klage – meine Klage – der Trauer eine Stimme: Totenklage ist Lebensäußerung, ist lebendig gehaltene Erinnerung.

Zitierte Literatur:
Achmatova, Anna: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch, übertragen von Christine Fischer, Jena 1998.
Frank, Manfred: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a.M. 1979.
Horn, Eva: Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit, München 1998.
Kunt, Ernö/Nyikes, Mária: „Tod – Gesellschaft – Kultur“. In: Sterben und Tod. Eine kulturvergleichende Analyse. Verhandlungen der VII. Internationalen Fachkonferenz Ethnomedizin in Heidelberg, 5.-8.4.1984. Hrsg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin von Dorothea Sich, Horst H. Figge und Paul Hinderling. Mit einem Vorwort von Christian von Ferber, Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 45-58.
Macho, Thomas H.: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. 1987.
Rückert, Friedrich: Kindertodtenlieder. Mit einer Einleitung neu herausgegeben von Hans Wollschläger, Nördlingen 1988.
Schimmel, Annemarie: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk, Freiburg i. Br. 1987.

Nach und nach ziehn wir

Nach und nach ziehn wir auf unsre WeiseFlamingos
In ein Land, so still und segensreich.
Bald vielleicht kommt meine eigne Reise:
Was ich habe, ordne ich sogleich.

Meine lieben Birken, meine Wälder!
Erde du! Gefilde, karg und weit!
Viel zu viele gehen; und ich selber
Weiß nicht mehr, wohin mit meinem Leid.

Allem galt auf Erden meine Liebe,
Was die Seele hüllt in Fleisch und Blut.
Fächergleiche Espen, lebt in Frieden,
Hingeneigt zur roten Abendflut!

Manchem sann ich nach für mich im Stillen,
Manches Lied schrieb ich mir selber auch;
Auf der Welt, die arm ist an Gefühlen,
War mir Glück der eigne Lebenshauch.

Glück war, Frauen sorglos zu verführen,
Tief im Gras, in Blüten ungezählt.
Unsere Geschwister sind die Tiere,
Niemals wurde eins durch mich gequält.

Doch ich weiß, dass Bäume dort nicht blühen
Und des Roggens Schwanenhals nicht singt.
Deshalb fühl ich, wenn die Scharen ziehen,
Wie ein Schauder mir das Herz durchdringt.

Denn ich weiß, dass dort, in jener Ferne,
Keine goldne Flur die Nacht zerteilt.
Deshalb hab ich jeden Menschen gerne,
Der auf Erden lebt zu meiner Zeit.

 

Sergej Esenin

Übersetzt von Christine Fischer

Es sprach der goldne Birkenhain zu Ende

Verstreutes Laub

Es sprach der goldne Birkenhain zu Ende
Sein letztes heitres, unbeschwertes Wort;
Die Kraniche, die sich zum Abflug wenden,
Ziehn ohne ein Bedauern von uns fort.

Bedauern – wen? Wir gehen, wie wir kamen,
Wir gehn vorbei, hinein, ziehn weiter gleich …
Von jenen träumt der Hanf, die Abschied nahmen;
Das Mondlicht leuchtet über blauem Teich.

Ich steh allein auf Fluren, karg und eben,
Der Kranichzug fliegt mit dem Wind so weit;
Ich denk an meine Jugendzeit voll Leben,
Doch was vergangen ist, tut mir nicht leid:

Nicht all die Jahre, ohne Sinn vergeudet,
Nicht meiner Seele fliederbunter Traum.
Der Brand der Eberesche lodert heute,
Doch wärmt uns Menschen dieses Feuer kaum.

Kein Schaden droht uns von den Eschenzweigen,
Und das vergilbte Gras verkümmert nicht;
Der Baum verstreut sein Blattwerk still und schweigend –
Wie ich die Wörter, trauervoll und schlicht.

Und trägt der Wind der Zeit, der alles wendet,
Das Laub zu einem großen Haufen fort,
So sagt: Es sprach der goldne Hain zu Ende
Sein birkenzartes, sein geliebtes Wort.

 

Sergej Esenin

Übersetzt von Christine Fischer

Frühfrost

Spätherbst

Am kalten Morgen steigt die Sonne
Als Feuersäule, rauchumhüllt.
Mich, falsch belichtet aufgenommen,
Erkennt man nicht auf diesem Bild.

Solang noch dichte Nebel wehen
Und sich das Gras am Teich erwärmt,
Bin ich für Bäume schwer zu sehen:
Das Ufer ist recht weit entfernt.

Der Fremde ist vorbeigegangen,
Versinkt, zu spät erkannt, im Dunst.
Den Frost hat Gänsehaut umfangen,
Die Luft gleicht Schminke, falscher Kunst.

Auf deinen Weg ist Reif gesunken
Wie feines Flechtwerk, weiß und zart.
Die Erde, von Kartoffeln trunken,
Will endlich rasten – und erstarrt.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 98.

In der Karwoche

Rückkehr des Lichts

Ringsum noch immer tiefe Nacht:
So früh ist dieser Morgen;
In grenzenloser Lichterpracht
Hält der gestirnte Himmel Wacht,
In Träumen ruht die Erde sacht
(Sie weiß nichts von der Osternacht),
Im Psalmenvers geborgen.

Ringsum noch immer tiefe Nacht:
So früh, dass Welten schweigen,
Solang die Ewigkeit bewacht
Den Platz, die Kreuzung, Dach um Dach;
Noch tausend Jahre – und die Macht
Des Lichtes wird sich zeigen.

Noch ist die Erde kahl und tot,
Lässt keine Glocken klingen;
Die ganze Nacht galt das Verbot,
Ein frohes Lied zu singen.

Am Donnerstag brach er das Brot …
Noch bis zum Samstagabend
Zerspringt die Flut in ihrer Not,
Am Ufer ruhlos grabend.

Die Wälder sind noch nackt und kahl,
Bezeugen Christi Leiden,
Wie Betende in großer Zahl
Stehn Kiefern in den Weiten.

Und in der Stadt, auf engem Raum
Versammeln sich Gesichter:
Stumm blickt durchs Fenster Baum um Baum
In helle Kerzenlichter.

Die Bäume stehen angstgequält,
Und groß ist ihre Klage,
Denn alle Zäune sind gefällt,
Es schwankt die Ordnung dieser Welt:
Heut trägt man Gott zu Grabe.

Sind schemenhaft dort drinnen nicht
Das dunkle Tuch, das Kerzenlicht,
Die Trauernden zu sehen?
Still treten aus der Tiefe vor,
Die um Erbarmen flehen,
So dass die Birken vor dem Tor
Beschämt zur Seite gehen.

Die Trauernden, im Leid vereint,
Ziehn um den Hof benommen;
Sie nehmen in die Gruft hinein
Die Freude und den Sonnenschein,
Den leichten Duft nach Brot und Wein
Und alle Frühlingswonnen.

Mit Schnee bewirft der März im Spiel
Die Kranken auf dem Hof gezielt,
Und jemand öffnet im Gewühl
Den Schrein, so segensreich gefüllt,
Um alles zu verschenken.

Am Morgen schweigt der Chor noch nicht;
In ihrer Trauer lenken
Die Schritte ins Laternenlicht
Vereint Apostel und Psalmist,
Um wortlos zu gedenken.

Was lebt, verstummt um Mitternacht,
Von Frühlingsduft umgeben;
So warte, warte, halte Wacht:
Bezwungen ist die Todesmacht,
Und neu ersteht das Leben.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 13-16.

Magdalena

Warum

Schon zum Fest gerüstet sind die Leute,
Ich bin ausgeschlossen, bin allein,
Deine reinen Füße salb ich heute
Nur mit Myrrhe und mit Spezerein.

Nirgends finde ich für Dich Sandalen,
Und vom Weinen seh ich nicht mehr klar.
Schleiergleich ist vors Gesicht gefallen
Mir das lange, aufgelöste Haar.

Jesus, ich umfange Deine Füße
Und benetze sie mit meinem Leid;
Fühlst Du nicht die heißen Perlen fließen?
Sei umhüllt von meinem Haar und Kleid.

In die Zukunft sehen darf ich heute,
Die Du für mich anzuhalten weißt;
Prophezeien kann ich, kann verstehen,
Bin erfüllt von der Sybille Geist.

Morgen werden alle es erleben,
Wie der Vorhang reißt, des Tempels Zier,
Wie die Erde anfängt zu erbeben,
Weil sie Mitleid fühlen wird mit mir.

Nur Soldaten werden Dich begleiten,
Schon hat sich formiert das Reiterkorps.
Wie ein Windstoß in die Himmelsweiten
Ragt hoch über uns das Kreuz empor.

Nieder falle ich an seinem Ende,
Hilflos, wundgebissen schweigt mein Mund.
Ausgebreitet hast Du Deine Hände
Für die Welt in Deiner Todesstund.

Wer auf Erden könnte Deiner Größe,
Könnte Deines Opfers würdig sein?
Willst Du jedes Menschenkind erlösen,
Alle Dörfer, jeden Fluss und Hain?

Doch drei Tage müssen erst vergehen,
Ohne Sinn und voller Ungemach,
Daran wachsend werde ich verstehen,
Deine Auferstehung kommt – danach.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 62 f.

Vermächtnis

Neue Hoffnung

Nach all den Jahren brennt mein Leben langsam aus;
Ich lösch mein Kerzenlicht und gehe still nach Haus,
In Weiten, grenzenlos, die Nebelschleier gleichen;
Ich will den vielen jungen Menschen weichen:
Sie ändern wundersam der Erdenwelt Gestalt,
Sie werden die Natur vielleicht besiegen –
Doch meine Asche soll an diesen Wassern liegen,
Doch mir gewähre Zuflucht dieser grüne Wald.

Ich sterbe nicht, mein Freund. Im leisen Blumenduft
Kannst du auf dieser Welt mich wiederfinden.
Und ihre Wurzeln soll die alte Eiche winden
Um meine Seele fest, die lebt in ihrer Gruft.
In jedem Blatt des Baumes wohne nun mein Geist,
Mein Denken lebe nun in seinen grünen Zweigen,
Die niederhängend dir im dunklen Wald sich zeigen,
Damit du selbst ein Teil von meinem Denken seist.

Urenkelkind, ich flieg – und seist du noch so fern –
Nah über dir dahin in himmlischem Gefieder,
Ich leuchte über dir in Blitzen immer wieder,
Ich bin im nassen Gras der funkelndhelle Stern.
Das Schönste auf der Welt ist unser eignes Sein.
Die dunkle Grabesnacht schlägt völlig sinnlos Wunden.
Ich habe stets gelebt, hab keine Ruh gefunden:
Die Welt kennt keine Ruh, nur Leben, mich allein.

Ich bin nicht erst in meiner Wiege recht entstanden,
Als meine Augen diese Welt erkannten –
Ich hab zum ersten Mal in meiner Welt gedacht,
Als lebloser Kristall zum Leben war erwacht,
Und als auf ihn der erste Tropfen prallte,
Der von dem eignen Licht gleichsam erschöpft erstrahlte.

Ich lebte nicht umsonst auf dieser Welt!
Nun möchte ich der Dunkelheit entschweben.
Vollende, Enkel, du mein Tun in deinem Leben –
Du bists, der mich in seinen Händen hält.

 

Nikolaj Zabolockij

Übersetzt von Christine Fischer

In: Nikolaj Zabolockij: Architektur des Herbstes, Jena 1996, S. 61-63.

Stimme im Telefon

Früher war sie vogelgleich und klingend,
War wie eine Quelle silberhell,
Als verströme sie sich heiter singend
An dem Kabel – strahlengleich und schnell.

Später war sie leises, fernes Stöhnen,
Wenn die Freude weicht dem nahen Leid,
Anders, reuevoll schien sie zu tönen
Und verlor sich in der Tiefe weit.

Schon ist sie im öden Feld verschwunden
Und von rauen Stürmen zugeschneit,
Meine Seele schreit, spürt nur noch Wunden,
Doch mein schwarzes Telefon – es schweigt.

 

Nikolaj Zabolockij

Übersetzt von Christine Fischer

In: Nikolaj Zabolockij: Architektur des Herbstes, Jena 1996, S. 161.