Die Amsel …

Die Amsel, ohne Trost, singt ihre Klagelieder,Singender Brunnen
Des Sommers bunte Pracht muss endlich doch vergehn,
Schon sinken Ähren dicht zu Ähren nieder,
Die Sicheln sirren, schlängeln sich und mähn.

Der Schnitterinnen kurze Röcke schwingen
Im Wind wie Fähnchen, außer Rand und Band.
Es fehlt allein der Schellen frohes Klingen,
Der Blick durch müde Wimpern, unverwandt.

Nicht Glück, nicht Liebe kann ich noch erwarten,
Es dunkelt schon, ich fühl’s, nun kommt das Leid;
Betrachte einmal nur den Wundergarten:
Dort waren schuldlos selig wir zu zweit.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 59.

Die lieben Seelen …

Trauerweide mit ruhenden Booten

Die lieben Seelen sind auf hohen Sternen.
Wie gut ist’s, dass man niemanden verlor
Und weinen kann. Ich möchte Lieder lernen
Vom Klang der Luft in Zarskoje Selo.

Am Ufer neigt die silberhelle Weide
Hin zur Septemberflut die Zweige still.
Und auferstanden ist aus frühern Zeiten
Mein stummer Schatten, der mich treffen will.

Wieviele Leiern in den Ästen schweben!
Auch meine eigne findet ihren Ort.
Und dieser sonnenhelle feine Regen
Ist sanfter Trost, ist segensreiches Wort.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 93.

Zarskoje Selo: Ort der Inspiration,
an dem Russlands größte Dichter gewirkt haben.

Der wundersame Frühling …

Der wundersame Frühling schied noch immer,
Ein klarer Wind strich über Bergesland,
Der See erstrahlte tief in blauem Schimmer –
Des Täufers Kirche, nicht von Menschenhand.

Du warst vom ersten Treffen noch erschrocken,
Als ich schon flehte um ein Wiedersehn;
Auch heute ist der Abend heiß und lockend –
Ich seh die Sonne am Gebirge stehn.

Du bist nicht hier, doch dies ist keine Trennung:
Von dir erzählt mir alles immerfort.
Ich weiß es, deinem Leid fehlt die Benennung,
Du trauerst sprachlos, ohne jedes Wort.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 57.

Maischnee

Wie reines Glas umhüllt ein weißes Tuch
Das zarte Grün, um bald sich zu verlieren;
Der Frühling lässt mit eisigkaltem Fluch
In Knospen allen Lebenssaft erfrieren.

Den frühen Tod zu sehn ertrag ich nicht,
Betrachten will ich nicht mehr Gottes Erde.
Von meiner Trauer handelt das Gedicht,
Das David den Jahrtausenden bescherte.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 37.

Wenn ich sterbe

Wenn ich sterbe … wenn nach Kämpfen
Ich vom Tod geschlagen werde,
Legt mich nicht in dunkle Erde,
Denn ich lebte ohne Grenzen:

Bin als Wanderer geboren,
Hab durchlitten viele Kriege –
Mir ist nicht bestimmt zu liegen
Still im Sarg nach meinem Tode.

Werft mich in die wilden Meere –
Dort werd ich vom Sturm zerrissen
Und für immer wandern müssen:
Wandern … nie mehr wiederkehren …

 

Julian Tuwim

Übersetzt von Christine Fischer

Ostern

Am Ufer

Zum Tod meines Vaters

Ich seh die Wolke dort in bunten Farbenspielen,
Das Dach wie Spiegelglas von fern, und ich kann fühlen:
Der Schatten weht, es fließt das Licht …
Bist du denn wirklich fort?.. – Und doch: Du bist gestorben,
Im hellen Frühlingsblau, an diesem Ostermorgen,
Der anbricht, ruft … Du hörst es nicht.

Die Bäche, die erneut von einem Wunder sangen,
Die Felder, aufgetaut, die rein wie Gold erklangen,
Kann dies nur Blendwerk sein, nur Trug?
Doch wenn’s ein Zuruf ist voll Innigkeit – „Komm wieder
Und lebe neu“ –, dann bist auch du in diesen Liedern,
Gewirkt aus Licht, dann lebst auch du!

 

Vladimir Nabokov

Übersetzt von Christine Fischer

Traum

 

Ist’s süß, zu träumen eine andre Welt?Nächtlicher Fluss
                                         A. Blok

War dieser Traum prophetisch oder dunkel …
Der Mars erstrahlte mir als hellster Stern,
Am Himmel stand er drohend, rötlich funkelnd –
Ich träumte jene Nacht, du kämst von fern.

Er war in Bachs Chaconne, er war in allem,
Auch in den Rosen, die umsonst erblüht,
Auch in den Glocken, die im Dorf verhallen,
Weit über Schollen, schwarz und umgepflügt,

Im Herbst, der kommen fühlte seine Stunde,
Doch inne hielt und sich verbarg noch zag …
O mein August, wie konntest du die Kunde
Mir bringen an dem schweren Jahrestag!

Wie zahl ich für die königliche Gabe?
Wohin zum Feiern gehn? – Ich weiß es nicht.
Und sauber, wie ich stets geschrieben habe,
Schreib ins verbrannte Heft ich mein Gedicht.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 129.

Er schweigt seit gestern …

Mohnblumen                  Wie ein Vogel wird mir das Echo Antwort geben.
                                           B. P.

Er schweigt seit gestern, wird nicht wiederkehren …
Er sprach mit unsern Hainen voller Klang.
Verwandelt ist er nun in reiche Ähren,
In feinsten Regen, den er oft besang.
Und alle Blumen blühten allerorten
Auf unsrer Welt zu diesem Tode hin.
Sogleich war der Planet sehr still geworden,
Der Erde heißt – mit so bescheidnem Sinn.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 143.

Letzter Toast

Ich trink auf mein zerstörtes Heim,
Aufs Leben voller Leid,
Ich trinke auch auf dich den Wein,
Auf Einsamkeit zu zweit,
Und auf den Mund, der mich belog,
Auf Augen ohne Licht,
Auf diese Welt, die mich betrog,
Auf Gott – er half mir nicht.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 115.

Ich sage euch …

Einsamer BaumIch sage euch, hört alle hin,
Dass ich zum letzten Male bin.
Als Baum, als Schwalbe singend …
Als Schilfrohr und als heller Stern,
Als Quellenwasser, leis von fern,
Als frohes Glockenklingen –
Ich bring Verwirrung euch nicht mehr,
Werd fremde Träume nicht mehr schwer
Mit meinem Leid durchdringen.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 121.