Durchfroren und leer …

Es will Abend werden ...Durchfroren und leer ist mein ärmliches Dach,
Ich zähl nicht die leblosen Tage.
Ich lese das Wort der Apostel still nach,
Des Psalters gesungene Klage.
Die blauenden Sterne, des Raureifes Flaum,
Begegnungen wieder und wieder –
Ein Ahornblatt, rötlich, vom herbstlichen Baum,
Gelegt in das Lied aller Lieder.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 55.

Wenn ein Mensch stirbt …

Wenn ein Mensch stirbt,
Verwandeln sich seine Bilder.
Anders blicken die Augen, und die Lippen
Lächeln ein anderes Lächeln.
Ich bemerkte es, als ich
Von der Beerdigung eines Dichters zurückkam.
Und seit damals habe ich es oft überprüft,
Und meine Vermutung hat sich bestätigt.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: Anno Domini. Gedichte. Russisch-deutsch,
übertragen von Christine Fischer, Jena 1998, S. 117.

Der Springbrunnen

 

Ganz von Lindenduft durchdrungenSpringbrunnen
Atmen zwei – die Nacht und ich;
Leise Töne sind erklungen,
Von der Flut, die schon zersprungen,
Strömt ein Singen inniglich.

Ich – der Körper, Blut, Gedanken
Sind gehorsam, sklavenhaft:
Bis zu den bekannten Schranken
Schwingen wir uns ohne Wanken
Durch des Schicksals Macht und Kraft.

Kopf will fragen, Herz muss schlagen,
Nebel wehen dicht an dicht;
Blut wird wieder hergetragen,
Flut ergießt sich ohne Zagen –
Und die Nacht versinkt im Licht.

 

Afanasij Fet

Übersetzt von Christine Fischer

In: Afanasij A. Fet: Quasi una fantasia. Gedichte Russisch-Deutsch.
Deutsch von Christine Fischer, Zürich 1996, S. 119.

Die Weide

Und das verdorrte Astgewirr.Trauerweide
Puschkin

Im Mosaik der Stille war ich Kind,
In Kühle wuchs heran auch mein Jahrhundert;
Wenn Menschen sprachen, war ich nur verwundert,
Verständlich sprach zu mir allein der Wind.
Die Klette und die Nessel liebt’ ich beide,
Doch noch viel inniger die Silberweide.
Und dankbar war zu leben sie bereit
Mit mir zusammen. Aus den Trauerzweigen
Fiel stets in meine Nacht der Träume Reigen …
Nun kam – vor meiner – ihre Sterbezeit!
Dort ragt der Stumpf, und fremde Stimmen steigen
Aus andern Weiden, flauen wieder ab,
Hier, wo sich diese unsre Himmel neigen.
Ich schweige … denn mein Bruder liegt im Grab.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 83.

Dunkle Nacht

Du, der du zu tragen hast,Müder Wanderer
Finde bei mir Rast.
Lass uns schweigen, lass uns schauen
In die dunkle Nacht.

Stell ab
Den Eichenkoffer –
Komm zu Kräften.
Lass uns zu zweit in dunkle Nacht
Die Augen heften.

Worte stocken. Schwere Last.
Brot, steinhart.
Wort ins Nichts. Zwei Steine
In dunkler Nacht.

 

Julian Tuwim

Übersetzt von Christine Fischer

 

In: Polnische und deutsche Poesie
in modernen Übersetzungen.
Hrsg. von Ulrike Jekutsch und Andrzej Sulikowski,
Szczecin 2002, S. 139.