Frühfrost

Spätherbst

Am kalten Morgen steigt die Sonne
Als Feuersäule, rauchumhüllt.
Mich, falsch belichtet aufgenommen,
Erkennt man nicht auf diesem Bild.

Solang noch dichte Nebel wehen
Und sich das Gras am Teich erwärmt,
Bin ich für Bäume schwer zu sehen:
Das Ufer ist recht weit entfernt.

Der Fremde ist vorbeigegangen,
Versinkt, zu spät erkannt, im Dunst.
Den Frost hat Gänsehaut umfangen,
Die Luft gleicht Schminke, falscher Kunst.

Auf deinen Weg ist Reif gesunken
Wie feines Flechtwerk, weiß und zart.
Die Erde, von Kartoffeln trunken,
Will endlich rasten – und erstarrt.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 98.

In der Karwoche

Rückkehr des Lichts

Ringsum noch immer tiefe Nacht:
So früh ist dieser Morgen;
In grenzenloser Lichterpracht
Hält der gestirnte Himmel Wacht,
In Träumen ruht die Erde sacht
(Sie weiß nichts von der Osternacht),
Im Psalmenvers geborgen.

Ringsum noch immer tiefe Nacht:
So früh, dass Welten schweigen,
Solang die Ewigkeit bewacht
Den Platz, die Kreuzung, Dach um Dach;
Noch tausend Jahre – und die Macht
Des Lichtes wird sich zeigen.

Noch ist die Erde kahl und tot,
Lässt keine Glocken klingen;
Die ganze Nacht galt das Verbot,
Ein frohes Lied zu singen.

Am Donnerstag brach er das Brot …
Noch bis zum Samstagabend
Zerspringt die Flut in ihrer Not,
Am Ufer ruhlos grabend.

Die Wälder sind noch nackt und kahl,
Bezeugen Christi Leiden,
Wie Betende in großer Zahl
Stehn Kiefern in den Weiten.

Und in der Stadt, auf engem Raum
Versammeln sich Gesichter:
Stumm blickt durchs Fenster Baum um Baum
In helle Kerzenlichter.

Die Bäume stehen angstgequält,
Und groß ist ihre Klage,
Denn alle Zäune sind gefällt,
Es schwankt die Ordnung dieser Welt:
Heut trägt man Gott zu Grabe.

Sind schemenhaft dort drinnen nicht
Das dunkle Tuch, das Kerzenlicht,
Die Trauernden zu sehen?
Still treten aus der Tiefe vor,
Die um Erbarmen flehen,
So dass die Birken vor dem Tor
Beschämt zur Seite gehen.

Die Trauernden, im Leid vereint,
Ziehn um den Hof benommen;
Sie nehmen in die Gruft hinein
Die Freude und den Sonnenschein,
Den leichten Duft nach Brot und Wein
Und alle Frühlingswonnen.

Mit Schnee bewirft der März im Spiel
Die Kranken auf dem Hof gezielt,
Und jemand öffnet im Gewühl
Den Schrein, so segensreich gefüllt,
Um alles zu verschenken.

Am Morgen schweigt der Chor noch nicht;
In ihrer Trauer lenken
Die Schritte ins Laternenlicht
Vereint Apostel und Psalmist,
Um wortlos zu gedenken.

Was lebt, verstummt um Mitternacht,
Von Frühlingsduft umgeben;
So warte, warte, halte Wacht:
Bezwungen ist die Todesmacht,
Und neu ersteht das Leben.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 13-16.

Magdalena

Warum

Schon zum Fest gerüstet sind die Leute,
Ich bin ausgeschlossen, bin allein,
Deine reinen Füße salb ich heute
Nur mit Myrrhe und mit Spezerein.

Nirgends finde ich für Dich Sandalen,
Und vom Weinen seh ich nicht mehr klar.
Schleiergleich ist vors Gesicht gefallen
Mir das lange, aufgelöste Haar.

Jesus, ich umfange Deine Füße
Und benetze sie mit meinem Leid;
Fühlst Du nicht die heißen Perlen fließen?
Sei umhüllt von meinem Haar und Kleid.

In die Zukunft sehen darf ich heute,
Die Du für mich anzuhalten weißt;
Prophezeien kann ich, kann verstehen,
Bin erfüllt von der Sybille Geist.

Morgen werden alle es erleben,
Wie der Vorhang reißt, des Tempels Zier,
Wie die Erde anfängt zu erbeben,
Weil sie Mitleid fühlen wird mit mir.

Nur Soldaten werden Dich begleiten,
Schon hat sich formiert das Reiterkorps.
Wie ein Windstoß in die Himmelsweiten
Ragt hoch über uns das Kreuz empor.

Nieder falle ich an seinem Ende,
Hilflos, wundgebissen schweigt mein Mund.
Ausgebreitet hast Du Deine Hände
Für die Welt in Deiner Todesstund.

Wer auf Erden könnte Deiner Größe,
Könnte Deines Opfers würdig sein?
Willst Du jedes Menschenkind erlösen,
Alle Dörfer, jeden Fluss und Hain?

Doch drei Tage müssen erst vergehen,
Ohne Sinn und voller Ungemach,
Daran wachsend werde ich verstehen,
Deine Auferstehung kommt – danach.

 

Boris Pasternak

Übersetzt von Christine Fischer

In: Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Werkausgabe Band 3: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hrsg. von Christine Fischer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017, S. 62 f.

Vermächtnis

Neue Hoffnung

Nach all den Jahren brennt mein Leben langsam aus;
Ich lösch mein Kerzenlicht und gehe still nach Haus,
In Weiten, grenzenlos, die Nebelschleier gleichen;
Ich will den vielen jungen Menschen weichen:
Sie ändern wundersam der Erdenwelt Gestalt,
Sie werden die Natur vielleicht besiegen –
Doch meine Asche soll an diesen Wassern liegen,
Doch mir gewähre Zuflucht dieser grüne Wald.

Ich sterbe nicht, mein Freund. Im leisen Blumenduft
Kannst du auf dieser Welt mich wiederfinden.
Und ihre Wurzeln soll die alte Eiche winden
Um meine Seele fest, die lebt in ihrer Gruft.
In jedem Blatt des Baumes wohne nun mein Geist,
Mein Denken lebe nun in seinen grünen Zweigen,
Die niederhängend dir im dunklen Wald sich zeigen,
Damit du selbst ein Teil von meinem Denken seist.

Urenkelkind, ich flieg – und seist du noch so fern –
Nah über dir dahin in himmlischem Gefieder,
Ich leuchte über dir in Blitzen immer wieder,
Ich bin im nassen Gras der funkelndhelle Stern.
Das Schönste auf der Welt ist unser eignes Sein.
Die dunkle Grabesnacht schlägt völlig sinnlos Wunden.
Ich habe stets gelebt, hab keine Ruh gefunden:
Die Welt kennt keine Ruh, nur Leben, mich allein.

Ich bin nicht erst in meiner Wiege recht entstanden,
Als meine Augen diese Welt erkannten –
Ich hab zum ersten Mal in meiner Welt gedacht,
Als lebloser Kristall zum Leben war erwacht,
Und als auf ihn der erste Tropfen prallte,
Der von dem eignen Licht gleichsam erschöpft erstrahlte.

Ich lebte nicht umsonst auf dieser Welt!
Nun möchte ich der Dunkelheit entschweben.
Vollende, Enkel, du mein Tun in deinem Leben –
Du bists, der mich in seinen Händen hält.

 

Nikolaj Zabolockij

Übersetzt von Christine Fischer

In: Nikolaj Zabolockij: Architektur des Herbstes, Jena 1996, S. 61-63.

Stimme im Telefon

Früher war sie vogelgleich und klingend,
War wie eine Quelle silberhell,
Als verströme sie sich heiter singend
An dem Kabel – strahlengleich und schnell.

Später war sie leises, fernes Stöhnen,
Wenn die Freude weicht dem nahen Leid,
Anders, reuevoll schien sie zu tönen
Und verlor sich in der Tiefe weit.

Schon ist sie im öden Feld verschwunden
Und von rauen Stürmen zugeschneit,
Meine Seele schreit, spürt nur noch Wunden,
Doch mein schwarzes Telefon – es schweigt.

 

Nikolaj Zabolockij

Übersetzt von Christine Fischer

In: Nikolaj Zabolockij: Architektur des Herbstes, Jena 1996, S. 161.

Die Musik

 Wie die Blumen auf dem Felde    

                                    Für D.D. Sch.

Wie wundersam erglüht ihr reines Licht!
Facetten schimmern, sie am Saum umfassend …
Sie spricht allein mit mir und tröstet mich,
Wenn alle andern ängstlich mich verlassen.

Der letzte Freund hat längst sich abgewandt –
Sie ist mit mir in meinem Grab gewesen;
In ihr hab ich des Donners Lied erkannt,
Und alle Blumen brachte sie zum Reden.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 99.

Die Amsel …

Die Amsel, ohne Trost, singt ihre Klagelieder,Singender Brunnen
Des Sommers bunte Pracht muss endlich doch vergehn,
Schon sinken Ähren dicht zu Ähren nieder,
Die Sicheln sirren, schlängeln sich und mähn.

Der Schnitterinnen kurze Röcke schwingen
Im Wind wie Fähnchen, außer Rand und Band.
Es fehlt allein der Schellen frohes Klingen,
Der Blick durch müde Wimpern, unverwandt.

Nicht Glück, nicht Liebe kann ich noch erwarten,
Es dunkelt schon, ich fühl’s, nun kommt das Leid;
Betrachte einmal nur den Wundergarten:
Dort waren schuldlos selig wir zu zweit.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 59.

Die lieben Seelen …

Trauerweide mit ruhenden Booten

Die lieben Seelen sind auf hohen Sternen.
Wie gut ist’s, dass man niemanden verlor
Und weinen kann. Ich möchte Lieder lernen
Vom Klang der Luft in Zarskoje Selo.

Am Ufer neigt die silberhelle Weide
Hin zur Septemberflut die Zweige still.
Und auferstanden ist aus frühern Zeiten
Mein stummer Schatten, der mich treffen will.

Wieviele Leiern in den Ästen schweben!
Auch meine eigne findet ihren Ort.
Und dieser sonnenhelle feine Regen
Ist sanfter Trost, ist segensreiches Wort.

 

Anna Achmatova

Übersetzt von Christine Fischer

In: Anna Achmatova: 50 Gedichte, Jena 2003, S. 93.

Zarskoje Selo: Ort der Inspiration,
an dem Russlands größte Dichter gewirkt haben.